Liebes Tagesbuch,
ich erzähle Ana am Abend immer noch Geschichten. Ich lese ihr vor, dann schalten wir das Licht ab und ich spreche noch, bis sie einschläft. Schon seit langer Zeit bewundere ich mich, wie ich nur die alten Geschichten, die mein Vater meinem Bruder und mir erzählte, noch kenne. Wenn ich zu Ana in der Dunkelheit spreche, vergesse ich alle Geschichten, die ich in der Schule las.
Mein Vater erzählte uns manchmal Geschichten, meistens wenn wir bei Oma schliefen. Ich erinnere mich ganz gut, obwohl ich nur fünf oder sechs Jahre alt war. Es war ein heißer Sommer, mein Bruder und ich saßen umarmt auf dem hinteren Sitzplatz des Autos, Mama und Papa waren vorne und wir fuhren von Jajce, der Stadt, in der wir wohnten, bis Kicelovo Brdo, dem Dorf, wo Papas Mutter wohnte. Mein Bruder und ich sangen Lieder mit besonderen Themen, die ich nicht einmal auf Serbisch erklären kann.
Im Dorf trafen wir unseren Onkel und seine Familie und wir blieben zusammen bei Oma. Papa und Onkel mähten das Gras und Mama und Tante halfen. Wir, die Kinder, sammelten Blumen und Marienkäfer. Wenn das Gras trocken war, sammelten Mama und Tante es. Das Gras wurde zu Heu und das Heu wurde bis in den Stall gefahren. Dann wurde das Stalldach geöffnet, um das Heu zu laden.
Es war schon Nacht, aber der Vollmond stand am Himmel und es war nicht dunkel. Mein Bruder und ich sprangen immer wieder vom Dach ins Heu. Dann mussten wir ins Haus zum Essen und zum Schlafen. Wir waren in einem kleinen Zimmer unter dem Dach. Das Zimmer hatte ein großes Bett, das von einer Wand zur anderen ging, und ein Fenster war über dem Bett. Ich sah immer durch das Fenster. Und ich sah den ganz dunklen Himmel mit vielen hellen Sternen. Ich habe so etwas nie wieder gesehen. Es sah aus, als ob die Berge ein Teil des sternenklaren Himmels wären. Wenn man es sieht, fühlt man, dass alles mit der Natur, dem Raum und den Menschen verbunden ist.
Mein Vater erzählte uns die Geschichten aus der Volksliteratur und Mama lächelte leise, weil Papa so interessant erzählen konnte. Er hatte die Gabe, aus gewöhnlichen Dingen lustige und interessante Geschichten zu erfinden. Mit seiner Interpretation war es oft noch lustiger und er war die beliebteste Person in jeder Gruppe.
Eine Nacht träumte ich, dass ich wach sei. Ich hörte ein Geräusch, ging zur Tür, schaute durch das Schlüsselloch und sah Feen. Sie waren jung und schlank, trugen weiße Kleider und hatten Blumenkränze in den Haaren. Die Feen hielten sich an den Händen und tanzten. Sie waren auch laut. Eine Fee bemerkte mich und stach mich mit einem Stock. Das war das Ende.
Obwohl ich nie an übernatürliche Wesen geglaubt habe, brauchte ich viel Zeit, um mir das zu erklären. Es war so glaubwürdig, dass ich mir bis heute nicht sicher bin, was wirklich passiert ist.
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